Am Ende der Welt, in Grense Jakobselv in der arktischen Finnmark, beginnt unsere Reise durch Norwegen. Mit unserem VW-Bus geht es hier aber vorerst nicht mehr weiter. Links, auf den abweisenden Berghängen hat sich das norwegische Militär eingenistet. Vor uns aufgewühltes, bleifarbenes Meer, in dem sich ab und zu ein paar Schweinswale zeigen. Und rechts, am anderen Ufer des Grenzflusses Jakobselv, befindet sich Russland.
Bis nach Murmansk sind es nur noch 150 Kilometer. Stählerne Grenztürme erinnern an die längst vergangenen Zeiten des Eisernen Vorhangs. Die beiden norwegischen Soldaten, die entspannt am Lagerfeuer sitzen, scheinen mit der Sicherung der Grenze nicht wirklich gefordert zu sein. Vom Flüchtlingsdrama, das in Mitteleuropa seinen Anfang nimmt, ist hier in der Arktis nichts zu spüren. Ihr Auftrag, wie sie uns unverhohlen erklären, besteht vor allem darin, die raren Touristen davon abzuhalten, den Fluss zu durchwaten, um auf russischem Staatsgebiet ein Erinnerungsfoto zu knipsen.
Anfang Juli haben wir die Schweiz bei drückender Hitze verlassen, uns für die Anreise durch Deutschland und Dänemark fünf Tage Zeit gelassen. In Schweden werden wir von der auffallend defensiven Fahrweise überrascht, gewöhnen uns aber gerne an das entspannte cruisen durch die ebene Kulturlandschaft. Schon bald lösen endlose Wälder die gepflegten Vorgärten mit akkurat geschnittenen Rasenflächen ab und es dauert nicht lange, bis wir unserem ersten Elch begegnen.
Zwischen 300 und 400‘000 Tiere soll es in Schweden geben. Überall warnen Verkehrsschilder vor einem Zusammenstoss, aber zu sehen ist die grösste europäische Hirschart sehr selten. Oft wird man erst durch die am Strassenrand parkierten Wohnmobile auf die scheuen Tiere aufmerksam. Im Gespräch mit den aufgeregt handy-filmenden Touristen, geht es schon bald nur um die Frage, wer am meisten Elche gesehen hat. Die eindrücklichen Bullen geben dabei offensichtlich mehr Punkte, als die Weibchen. Insgesamt zählen wir am Ende unserer Reise Total neun Elche und haben somit all unsere Deutschen Konkurrenten ausgestochen.
„inkl. unbefestigter Strassen?“frägt uns das Navigationsgerät am nächsten Morgen. Inzwischen vertraut mit den hiesigen Strassenverhältnissen quittieren wir mit JA und verlassen Grense Jakobselv Richtung Kirkenes, der grössten Stadt am Varangerfjord.
Im II. Weltkrieg versuchten die Deutschen Truppen von hier aus, den eisfreien russischen Hafen in Murmansk unter ihre Kontrolle zu bekommen. Aber die rote Armee schlug immer wieder zurück, flog über 300 Bomberangriffe und machte Kirkenes so zur meist bombardierten Stadt Norwegens. Die letzten Reste, die diesem Inferno wider Erwarten standhielten, brannten die Deutschen bei ihrem Rückzug nieder. Entsprechend trost- und charmelos präsentiert sich die Stadt heute.
Im Hafen verkauft ein Fischer direkt von seinem Kutter frisch gefangene Krevetten an die wartende Kundschaft. Während wir das Treiben, eingepackt in Fleece und Windjacke, beobachten, trotzen die vorbildlich in Einerkolonne wartenden Einheimischen in T-Shirt und Zehenschlappen dem bissigen Wind.
Am Quai nebenan wird ein russischer Trawler, dessen ursprüngliche Farbe sich unter der dicken Rostschicht nur noch wage erahnen lässt, kistenweise mit Nahrungsmitteln beladen. Die Matrosen winken uns an Bord und erklären uns in brüchigem Englisch, dass die Jagd-Saison auf die eindrücklichen Königskrabben vor der Tür steht. Diese Krustentiere, ursprünglich im nördlichen Pazifik beheimatet, wurden in den 60ger Jahren von russischen Forschern in der Barentssee ausgesetzt. Dank den hier herrschenden guten Lebensbedingungen und weil natürliche Fressfeinde fehlen, haben sich diese Monsterkrabben in der Zwischenzeit der Küste entlang nach Süden bis zu den Lofoten ausgebreitet. Bereits gibt es erste Unkenrufe, die davor warnen, dass die Krabben in naher Zukunft auch die Badenden auf Sylt erschrecken werden.
Nicht nur wegen der Königskrabben und den enorm reichen Fischgründen ist die Gegend um den Varangerfjord bekannt. Das Vogelleben in diesem Gebiet steht in krassem Gegensatz zu der auf den ersten Blick so kargen Landschaft. Das Meer, die Flussdeltas, die flachen Stränden aber auch verschiedene Feuchtgebiete, Moore und Birkenwälder dienen unzähligen Vögeln als reichhaltige Nahrungsquelle während des Vogelzugs, beim nisten oder überwintern. Im Buch „Top 100 Birding Sites of the World“ wird der Varangerfjord als eines der artenreichsten Vogelgebiete Europas aufgeführt.
In Nesseby, gleich hinter der strahlend weissen Kirche, die die kleine Halbinsel überragt, lassen sich auch jetzt im Spätsommer noch verschiedene Vögel bei der Futtersuche beobachten. Während sich auf dem Wasser diverse Möwenarten bei der Jagd nach Sandaalen gegenseitig Konkurrenz machen, suchen Austernfischer, Flussregenpfeifer und Meerstrandläufer bei Ebbe in Eintracht den Strand nach Fressbarem ab.
Vor der Küste, am nördlichsten Ende des Varangergjordes befindet sich die Stadt Vardø, die seit 1983 mit einem Tunnel unter dem Meer mit dem Festland verbunden ist. Im Hafen werden Überfahrten zu dem in der Barentssee liegenden Vogelfelsen Hornøya angeboten. Auf der Insel brüten u.a. große Kolonien von Krähenscharben, Papageientauchern, verschiedenen Möwenarten und diversen anderen Seevögeln.
Nach 10 Minuten Überfahrt legt das Boot direkt unterhalb der von den Vögeln belegten Felswand an. Auch wenn jetzt im August das Brutgeschäft weitgehend beendet ist, die Kakophonie tausender Vögel ist unbeschreiblich. Die Wanderung vorbei an dem anarchistisch wirkenden Gewirr hinauf zum Leuchtturm führt teilweise durch unwegsames Gelände. Der Pfad wurde an den sumpfigen Stellen durch Trittbretter abgedeckt, Steigungen mit einfachen Holzstiegen ergänzt und an besonders steil abfallen Stellen wurden behelfsmässige Geländer aus Schiffstauen angebracht. Drei Stunden und unzählige Fotos später werden wir wieder pünktlich von der Fähre abgeholt.
Bei unserer Ankunft im Hafen wird die Ladung eines Fischkutters gelöscht. Unter den Arbeitern befinden sind nicht nur einheimische Norweger, vor allem Russen sind hier angestellt. Ein junger Holländer erzählt freimütig, dass er seine heutige Frau vor drei Jahren im Internet kennengelernt hat. In der Zwischenzeit ist er nach Vardø gezogen, um sie zu heiraten. Ein anderer Arbeiter stammt ursprünglich aus Südafrika und wohnt seit 10 Jahren in der nördlichsten Ecke von Norwegen. Aber nicht mehr lange, wie er uns erklärt. Die Winter sind ihm erstens zu kalt und zweitens – wie er sagt – pitch dark. Daher wird er in absehbarer Zeit in den Süden ziehen. Nach Tromsø, einer Stadt, die immer noch 350 Kilometer Luftlinie nördlich des Polarkreises liegt.
Bis zu 10 Tonnen Fisch können an guten Tagen von diesen Fischerbooten gefangen werden. Die toten, in der Sonne metallisch glänzenden Fische werden in grossen Plastikbecken mit dem Gabelstapler in die Halle zur Verarbeitung gebracht, wo sie maschinell ausgenommen, gewaschen und anschliessend von Hand nach Art sortiert werden. Nach der Verpackung mit Eis werden die Styroporboxen am gleichen Tag noch per Lastauto zu den Abnehmern in ganz Europa transportiert. Als wir uns für die improvisierte Führung bedanken, drückt man uns als Abschiedsgeschenk kurzerhand einen fetten Fisch in die Hand.
Wir verlassen den Varangerfjord und fahren auf der kleinen Straße nord-westwärts dem Eismeer entlang Richtung Hamningberg. In den offenen Ebenen, durchzogen von Sumpfgebieten und kleineren Mooren, suchen vereinzelte Personen nach den begehrten Moltebeeren. Die Landschaft ändert sich, als sich die einspurige Straße nach einer Kuppe dem Meer entlang schlängelt. Als wäre man unversehens auf dem Mond gelandet, findet man sich in einer grauen Steinwüste wieder. Fifty shades of grey in der arktischen Landschaft. Scharfkantige Felsformationen, vier bis fünf Meter hoch, türmen sich zu beiden Seiten der Straße. Dazwischen Steine in allen Formen und Größen, bewachsen allenfalls von verschiedenen Flechten und etwas Wollgras, die der kargen Landschaft wenigsten etwas Farbe verleihen. Selbst die Krüppelbirken kriechen nur noch dem Boden entlang, um sich vor Wind und Wetter zu schützen. Wo sich aber ein Fluss sein Bett bis ans Meer gebahnt hat, entstand in seinem Delta ein traumhafter Sandstrand, der das unwirtliche Erscheinungsbild auflockert.
Die Vielfalt der Vogelarten des Varangerfjordes nimmt hier schlagartig ab. Dafür können wir wieder Seeadler beobachten. Die wilden Rentiere, die wiederkäuend zwischen den Gesteinsformationen liegen, entdecken wir erst auf den zweiten Blick. Ihr anthrazitfarbenes, äußerst dichtes Fell lässt sie mit der vom arktischen Klima geprägten Landschaft verschmelzen. Als Fotograf bin ich dankbar, nun endlich Rentiere vor einem natürlichen Hintergrund fotografieren zu können. Bisher sind uns die Rentiere vor allem auf der Strasse entgegengekommen.
Das heile Bild der unberührten Natur bekommt erste Kratzer, hält man unterwegs an und geht ein paar Schritte zu Fuss der Küste entlang. Zerfetze Fischernetze, verschiedenste Behälter, diverse Schuhe vom Gummistiefel bis zur Sandale, abgerissene Bojen und unzählige Plastikscherben, deren ursprüngliche Herkunft nicht mehr erkennbar ist, liegen vom Meer an Land geworfen auf den weißen Sandstränden und zwischen den scharfkantigen Felsen.
Seit zwei Monaten sind wir nun unterwegs und längst ein gut eingespieltes Team. Küche, Schlaf- und Wohnzimmer vereint auf 10m2 genügen ebenso wie 30 Liter Frischwasser und zwei Gas betriebene Kochplatten. Bei warmen, trockenem Wetter freilich verlagert sich das Alltagsleben vor die Schiebetür, wo uns eine wunderbare Sonnenterrase mit täglich wechselnder Aussicht zur Verfügung steht.
Nur unser Badezimmer ist separat. Unabhängig von Wetter und Temperatur wird eisern jeden Morgen vor dem Bus geduscht. Der Duschsack erweist sich aber mit der Zeit unseren Anforderungen als nicht gewachsen und so muss eine stabilere Lösung her. Ein Wasserkanister, ein Stück Schlauch und ein Giesskannenkopf als Brause lösen das Problem.
Auf unserer Weiterreise ersparen wir uns den Umweg zum Nordkap. Traumhafte Strassen durch weitgehend unberührte Natur führen uns nach Westen an die wilde Atlantikküste. Im dichten Nebel haben wir Mühe, einen geeigneten Übernachtungsplatz zu finden. Schliesslich entscheiden wir uns für einen kleinen Platz etwas abseits der kaum befahrenen Landstrasse. Nur ein paar Küstenseeschwalben beobachten mich beim erfolglosen fischen. Später schaut noch eine Bartrobbe vorbei, verschwindet aber schon bald wieder im undurchdringlichen Grau. Erst am nächsten Morgen werden wir gewahr, in welch spektakulären Umgebung wir hier gelandet sind. Umgeben von steil ins Meer abfallenden Felsen funkelt die Bucht in den ersten Sonnenstrahlen. In der überwältigenden Kulisse kommen wir uns wie Statisten im nächsten „Herr der Ringe“ Film vor.
Im südlichen Teil Norwegens beschert uns der Oktober einen wahrhaft goldenen Herbst. Wir ziehen uns in die Fjells zurück und meiden die zumindest für norwegische Verhältnisse relativ stark besiedelten Küstenbereiche. Stahlblauer Himmel kontrastiert mit den gelb leuchtenden Birkenblättern und der in rostigen Rottönen verfärbten Landschaft.
In den von Gletschern glatt geschliffenen Bergen sind wir praktisch allein unterwegs. Nur noch einzelne Wanderer oder Jäger kreuzen unsere Wege.
Ein Mal taucht noch ein litauischer Reisebus auf und entlässt eine Ladung Asiaten in die kurze Freiheit, um die spektakuläre Landschaft tausendfach zu fotografieren. Sie sind ganz begeistert, einen „echten“ Norweger vor sich zu haben und bestehen auf einem Foto mit mir. Ich erkläre Ihnen auf Englisch, dass ich ja eigentlich Schweizer bin. Das geht aber in der allgemeinen Aufregung unter. Nach 10 Minuten ist der Spuk auch schon wieder vorbei.
Anfang November schliesst sich der Kreis, wir überqueren die Grenze zu Schweden und setzen von Göteborg nach Dänemark über. Wir geniessen die letzten Tage unsere Tour durch die weitläufigen Dünenlandschaften an der Westküste Dänemarks. Aber irgendwann lässt es sich dann nicht mehr länger vermeiden und wir treffen die Entscheidung, die letzten 1‘000 Kilometer zurück nach Basel auf der deutschen Autobahn in Angriff zu nehmen.
Norwegen eignet sich optimal für einen längeren Urlaub im Wohnmobil. Das ausgezeichnet ausgebaute Strassennetz und das vor allem im Norden geringe Verkehrsaufkommen ergeben die perfekte Kombination für ein entspanntes Reisen im eigenen Fahrzeug. Die zulässige Höchstgeschwindigkeit ausserhalb geschlossener Ortschaften beträgt 80 Kmh. Da das Überschreiten der Geschwindigkeitsgrenzen in Norwegen relativ hart bestraft wird, hält sich auch jeder Automobilist an die Geschwindigkeitsbegrenzungen.
Die Infrastruktur auf den oft traumhaft gelegenen Rastplätzten ist auffallend sauber. Campingplätze gibt es genug, allerdings sind diese eher teuer, zumal duschen oft noch separat bezahlt werden muss. Aber die spektakuläre Landschaft bietet genug Möglichkeiten, jeden Abend wieder seinen persönlichen Traumplatz abseits der Zivilisation zu finden. Englisch wird überall sehr gut gesprochen, so dass eine Verständigung mit der lokalen Bevölkerung problemlos möglich ist.
Entlang achtzehn ausgewählter Norwegischen Landschaftsrouten lassen sich Fjorde, Berge und Küstenlandschaften auch für Neulinge spektakulär bereisen.
Auch wenn Norwegen auf dem gleichen Breitengrad wie Alaska, Grönland und Sibirien liegt, ist das Klima in Norwegen im sehr angenehm. Im Frühling, von Mai bis Juni erblüht Norwegens Landschaft : Bäume und Blumen erwachen zum Leben und die Wasserfälle schwellen unter dem das Schmelzwasser aus dem Gebirge an. Zwischen Ende Juni und Anfang August sind die Tage am längsten, hellsten und wärmsten. Der Herbst mit seinen goldenen Farben bietet das ideale Wetter für einen Wanderurlaub sowie die für Beeren- und Pilzsuche.